Lilie des Meeres, oder wie ich zur erotischen Literatur kam

Lilie des Meeres, Rowohlt 1970
Lilie des Meeres, Rowohlt 1970

»Ich war achtzehn und mit einer Freundin im Sommerurlaub auf Sardinien. Wir lebten bei einer Fischerfamilie und verbrachten die Tage am Strand. Bei einem nachmittäglichen Spaziergang im Strandkiefernwald traf ich ihn, dessen Namen ich bis heute nicht kenne. Er war ein junger Mann aus dem Dorf, wohl nicht allzu gebildet, aber hübsch mit einem schönen, ernsten Gesicht. Ich verabredete mich mit ihm für den darauffolgenden Abend um Mitternacht am Strand und erteilte ihm genaue Instruktionen für die Nacht, in der ich meine Entjungferung plante. Er sollte mich am Strand ergreifen, überwältigen und mir die Hände auf dem Rücken fesseln. Dann sollte er mich unterwerfen, ohne mich zu grob zu behandeln und ohne zu mir zu sprechen. Ich würde mich ihm freiwillig hingeben, mich ganz seinen Wünschen fügen, wenn er sich nur an meine Anordnungen hielte. Zum Zeichen meiner Aufrichtigkeit gestattete ich ihm noch am selben Abend, seine Beute in Augenschein zu nehmen. Er kam an mein Fenster und ich präsentierte mich ihm nackt, hingestreckt auf dem Bett liegend, nur mit einem goldenen Halsband bekleidet. Als er sich anschickte, durchs Fenster zu klettern, schickte ich ihn fürs Erste davon.

Es war eine klare, mondhelle Nacht, das Meer tiefschwarz und obwohl ich ihn erwartete, überraschte er mich. Er band meine Hände mit seiner Krawatte, ehe er ausgiebig meinen Körper erkundete. Plötzlich bekam ich Angst, doch es nützte nichts mehr. Seine Erregung war zu groß, um jetzt noch innezuhalten. Also ergab ich mich in mein Schicksal, ließ mich von ihm in den Dünen zu Boden zwingen und erduldete seinen Angriff mit Stolz und Demut.«

berichtet Odice in meinem Roman Odice – Zeiten der Sinnlichkeit, doch ihr Geliebter Julien erkennt in ihrer angeblich autobiografischen Erzählung die Handlung aus André Pieyre de Mandiargues‘ Novelle Le Lis de Mer.

   Ich selbst war sechzehn, als mir das schmale rororo-Taschenbuch des französischen Schriftstellers mit dem deutschen Titel Lilie des Meeres in die Hände fiel.

Contessa Vanina, die tatsächliche Heldin der Geschichte, ist eine schöne, kühle Internatsschülerin, ebenso gebildet wie überheblich und verwöhnt. Und sie wählt sich einen sardischen Adonis zum Eroberer, wie es dreißig Jahre später auch Benoîte Groults George in Salz auf unserer Haut mit ihrem bretonischen Fischer tun wird.

Es ist gerade diese emanzipatorische Grundhaltung, mit der Mandiargues seine junge Protagonistin ausstattet, die mir bis heute imponiert. Wie George ist Vanina ihrem schönen, bäurischen Liebhaber intellektuell weit überlegen; sie ist es, die die Bedingungen stellt, die Parameter festlegt und die Dramaturgie ihres archaischen Entjungferungsrituals ersinnt.

Es ist eine kalkulierte Unterwerfung, die Verwirklichung einer erotischen Fantasie, die Vanina minutiös plant und mit ihrem namenlosen Geliebten am wilden korsischen Strand vollzieht.

Vanina macht ihren Liebhaber zum Erfüllungsgehilfen ihrer devoten Fantasien und wird damit nicht wie etwa Justine oder O zum servilen Objekt männlicher Dominanz. Obwohl sie sich letztlich ganz in die Situation ergibt, sich ihrem schönen Sarden ausliefert und wehrlos gefesselt hingibt, bleibt ihr Handeln bis zuletzt Ausdruck einer absolut selbstbestimmten, lustvollen und von jeglichen Konventionen befreiten weiblichen Sexualität.

André Pieyre de Mandiargues, der gern zur zweiten Generation der Surrealisten gezählt wird und sich selbst in der Tradition der Deutschen Romantik sieht, schreibt mit Le Lis de Mer 1956 (zwei Jahre nach Erscheinen von Pauline Réages sadomasochistischem Skandalroman Histoire d’O) eine höchst erotische und sehr einfühlsame Novelle über das sexuelle Erwachen einer jungen Frau.

Seine präzise, klare Sprache verbindet sich dabei mit der hypnotischen Kraft der arkadischen Szenerie. Das wilde Gestade der sardischen Bucht, das Schilfdickicht und das Strandkiefernwäldchen werden zur magischen Kulisse für diesen sinnlichen Deflorationsmythos.

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