Kunst-Pornos von Belle de Jour bis Nymphomaniac - Teil 5: Der Liebhaber & Eyes Wide Shut

Jean-Jacques Annaud und Stanley Kubrick, bzw. Marguerite Duras und Arthur Schnitzler sind die prominenten Namen, mit denen wir unsere Entdeckungsreise durch die Welt des erotischen Kinos in den 1990er Jahren fortsetzen. Mit Der Liebhaber und Eyes Wide Shut kommen wir zu zwei kongenialen Literaturverfilmungen, die den erotischen Gehalt ihrer Vorlagen auf ganz eigene Weise ins Bild setzen.

Der Liebhaber (1992)

1992 adaptiert Jean-Jacques Annaud (Der Name der Rose, Sieben Jahre in Tibet) mit Der Liebhaber eine autobiographische Erzählung von Marguerite Duras.

Der Film spielt im Saigon der 1920er Jahre, zur Zeit der französischen Kolonialherrschaft. Auf einer Mekong-Fähre kommt es zur ersten Begegnung der fünfzehnjährigen französischen Pensionatsschülerin und eines doppelt zu alten chinesischen Aristokraten. Beide fühlen sich zueinander hingezogen und beginnen, den geltenden Konventionen zum Trotz, eine leidenschaftliche Affäre. Von der verarmten Familie aufgrund finanzieller Zuwendungen stillschweigend geduldet, entdeckt die junge Französin mit ihrem schönen und wohlhabenden chinesischen Geliebten die Geheimnisse der ersten Liebe und die hohe Kunst des Liebesspiels. Doch die Wirklichkeit wird das Paar einholen und der skandalösen Amour fou ein Ende setzen…

Obwohl die erotische Liebesgeschichte in Annauds Adaption deutlich im Zentrum des Geschehens steht, ist sein prächtig ausgestatteter und von Robert Fraisse meisterhaft fotografierter Film auch ein schillerndes Gesellschaftskaleidoskop und ein genau beobachtetes Familiendrama, das Konfliktthemen wie Rassismus, Prostitution und Opiumsucht im kolonialen Indochina aufgreift.

Aber berühmt geworden ist Der Liebhaber nun mal vor allem wegen seiner ebenso intimen wie expliziten Sexszenen. Nahaufnahmen und lange Einstellungen während der durchweg höchst sinnlich und geschmackvoll arrangierten Bettszenen schürten das hartnäckige Gerücht, die Hauptdarsteller hätten vor Fraisses Kamera echten Geschlechtsverkehr vollzogen, was der Regisseur wohl aus Marketinggründen auch lange Zeit nicht dementierte.

Der Vergleich zum kontroversen Lolita-Stoff und den zahlreichen Nabokov-Verfilmungen liegt bei Der Liebhaber natürlich nahe, doch ist die Schwerpunktsetzung hier eine ganz andere. Statt der pädophilen Obsession verhandelt Annauds Film viel mehr den Zauber des sexuellen Erwachens, die erotische Initiation und die körperliche Bewusstwerdung seiner jungen Protagonistin. Insofern ist Der Liebhaber fast schon ein Lehrfilm über die Geheimnisse des sexuellen Begehrens, ein sinnlich-poetischer Ratgeber allemal.

Eyes Wide Shut (1999)

Egon Schiele, Wikimedia Commons (gemeinfrei)
Egon Schiele, Wikimedia Commons (gemeinfrei)

Bereits seit 1971 war Meisterregisseur Stanley Kubrick (2001: Odyssee im Weltraum, Uhrwerk Orange) im Besitz der Filmrechte an Arthur Schnitzlers Traumnovelle. Die erst 1999 mit dem damaligen Glamour-Ehepaar Nicole Kidman und Tom Cruise realisierte Adaption des Stoffes mit dem Titel Eyes Wide Shut sollte die letzte Regiearbeit des noch vor Fertigstellung verstorbenen Ausnahme-Filmemachers werden.

Schnitzlers im Wien der Jahrhundertwende angesiedelte, von Symbolismus, Traumdeutung und Psychoanalyse beeinflusste Novelle schildert den Einbruch des Sexus in das Leben eines wohlanständigen Arztehepaars.

Stanley Kubrick verlegt die Handlung in das New York City der Gegenwart. Wie in der Vorlage gerät eine erotische (Seitensprung-)Beichte der Ehefrau zum Auslöser für eine nächtliche Odyssee des Ehemannes, die ihn wie in einem erotischen Stationendrama von einem Ort an den nächsten führt. In einem Jazzclub erzählt ihm ein ehemaliger Kommilitone und jetziger Barpianist schließlich von einem nächtlichen Engagement bei einer Geheimgesellschaft, bei deren regelmäßigen Festivitäten er mit verbundenen Augen spielen muss. Er verweigert seinem Freund, ihn dorthin mitzunehmen, nennt ihm aber Losungswort und Dresscode der Veranstaltung auf einem luxuriösen Anwesen außerhalb der Stadt. Mit einem Kostüm und einer venezianischen Maske vom Verleih erhält Bill tatsächlich Zutritt zu der exklusiven Veranstaltung, die aus einer erotischen Zeremonie und einer nachfolgenden Orgie besteht.

Eine der anwesenden Frauen warnt ihn mehrfach vergeblich – wie bei Schnitzler wird der Eindringling entlarvt und soll vor den Augen der Anwesenden bestraft werden. Doch die anonyme Dame opfert sich, seine Strafe an seiner Statt zu erdulden und Bill darf das Anwesen unbehelligt verlassen, unter der Bedingung, diesbezüglich keine weiteren Nachforschungen anzustellen.

Tatsächlich versucht Bill an den darauffolgenden Tagen vergebens, Licht in das mysteriöse Dunkel zu bringen. Die Antworten, die er erhält, sind ebenso beunruhigend wie widersprüchlich und so kehrt er letztlich reumütig in den Schoß der Familie und in die Arme seiner Ehefrau zurück…

Denkt man an Eyes Wide Shut, kommt einem zuerst unweigerlich die Orgienszene in den Sinn. Kein Wunder, stellt Stanley Kubrick den erotischen Maskenball mit rund 17 Minuten Spieldauer doch so prominent ins Zentrum seines Films, dass keine andere Szene mit dieser konkurrieren könnte.

James Ensor, Gustav Klimt, Egon Schiele und vor allem Helmut Newton standen Pate für diesen opulenten, perfekt komponierten und choreographierten Bilderreigen.

Die zu sakralen Mönchsgesängen abgehaltene Zeremonie mit den venezianisch kostümierten Herren und den nackten, opulent maskierten Damen, der daran anschließende Maskenball und die tatsächliche Orgie, bei der sich die Paare und Gruppen in den weitläufigen Gemächern des Schlosses vergnügen, sind ein Fest für den Betrachterblick.

Dieser verbotene Blick, das Sehen und Nichtsehen, die Irritation der Wahrnehmung sind es, von denen Eyes Wide Shut handelt. Auch wenn Stanley Kubrick die psychoanalytische Lesart der Vorlage durch einen eher soziologischen, gesellschaftskritischen Deutungsansatz ersetzt, bleibt es ein Film über den unerhörten Einbruch der erotischen Imagination in die wohlgeordnete Realität.

 

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