Kunst-Pornos von Belle de Jour bis Nymphomaniac - Teil 6: Intimacy & Secretary

Wir läuten das neue Jahrtausend ein mit zwei erotischen Festival-Gewinnern, die unterschiedlicher kaum sein könnten.

Patrice Chéreaus existenzielles Erotikdrama Intimacy gewann den Goldenen Bären der Berlinale, Steven Shainbergs erotische Tragikomödie Secretary den Jury-Preis beim Sundance Film Festival.

Intimacy (2001)

Egon Schiele: Umarmung, Wikimedia Commons (gemeinfrei)
Egon Schiele: Umarmung, Wikimedia Commons (gemeinfrei)

Patrice Chéreaus preisgekröntes Sexdrama Intimacy mit Mark Rylance und Kerry Fox in den Hauptrollen basiert auf einem Roman des britischen Schriftstellers Hanif Kureishi (The Buddha of Suburbia, Mein wunderbarer Waschsalon).

Ein Mann und eine Frau treffen sich jeden Mittwoch zum ungestümen Sex, dann gehen sie wieder getrennte Wege. Als Claire eines Tages nicht erscheint, folgt Jay ihr beim nächsten Mal heimlich und findet heraus, dass sie Laienschauspielerin ist und eine Familie hat. Er selbst hat seine Familie seines Freiheitsdrangs wegen verlassen, doch Claire fängt an, ihm etwas zu bedeuten. Der Versuch, sich mit ihrem Mann Andy (Timothy Spall) anzufreunden, ist allerdings zum Scheitern verurteilt und verändert alles…

Auf den ersten Blick scheint Intimacy schlicht eine Variation von Der letzte Tango in Paris zu sein. Ein Paar trifft sich zum unverbindlich-anonymen Sex, wobei sich der Konflikt daraus ergibt, dass er jegliche sozialen Bindungen verloren hat und beginnt, in ihr seine (letzte) Rettung zu suchen, während sie durchaus gebunden ist und diese sozialen Verpflichtungen letztendlich nicht für ihre Affäre aufgeben kann und will.

Wie Der letzte Tango in Paris (und einige andere Filme unserer Serie) lebt Intimacy vor allem von seiner expliziten, ungeschminkten Darstellung von Sexualität. Fernab von der Hochglanzästhetik der Pornoindustrie mit ihren normierten Traumkörpern und Fantasiestellungen zeigt Patrice Chéreau, wie Sex wirklich ist: lustvoll, erputiv, schweißtreibend, mitunter brutal, animalisch und schmutzig. Im quasi-dokumentarischen Stil macht die Handkamera den Zuschauer zum Voyeur ohne Lustgewinn. Denn Lust empfinden hier nur die Beteiligten und genau das unterscheidet Intimacy von einem Porno.

Der Mehrwert für den Betrachter ist kein erotischer, sondern ein intellektueller. Es geht um enttäuschte Hoffnungen, (Selbst-)Aufgabe, soziale Normen, um die Verleugnung und den Verlust von Gefühlen.

Secretary (2002)

Steven Shanebergs Film Secretary ist eine SM-Romanze mit tragikomischen Elementen nach einer Erzählung von Mary Gaitskill (Bad Behavior).

Die labile, unter einer Borderline-Störung leidende Lee Holloway (Maggie Gyllenhaal) bewirbt sich nach einem Suizidversuch und einem längeren Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik um eine Stelle als Sekretärin bei dem Anwalt Edward Grey (James Spader). Schon bald entwickelt sich zwischen dem verklemmten Juristen und der instabilen Lee eine SM-Beziehung, bei der Lee nicht nur ihre devoten Neigungen entdeckt, sondern unter Greys dominanter Führung auch lernt, ihre destruktiven Selbstverletzungen zu kontrollieren und aufzugeben. Während Lee auflebt, schreckt Grey vor der Entwicklung ihrer Beziehung zurück und kündigt Lee. Doch die gibt nicht so schnell auf…

Es ist erstaunlich, wie souverän Secretary zwischen den Genres pendelt und in Gestalt einer romantischen Komödie so diffizile Themen wie Suizid, Borderline und Sadomasochismus verhandelt. Es ist vor allem dem brillanten, differenzierten Spiel der Hauptdarsteller zu verdanken, dass dieses Experiment glückt und immer die Balance zwischen Ernst und Leichtigkeit gewahrt wird.

Ist es in Fifty Shades Of Grey (man beachte die Namensverwandtschaft) die Aufgabe der Frau, den Mann von seinen dunklen Trieben zu heilen, ist es hier ausgerechnet BDSM, das zwei schüchterne Außenseiter zusammenbringt und ihnen hilft, ihre Neurosen zu überwinden.

Secretary ist eine unkonventionelle Romanze mit etwas SM und viel Herz.

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