Über das Erotische im Märchen

Gustav Klimt: Danae, Wikimedia Commons (gemeinfrei)
Gustav Klimt: Danae, Wikimedia Commons (gemeinfrei)

Im deutschsprachigen Raum ist der Begriff „Märchen“ aufs Engste verknüpft mit den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm und damit gewissermaßen ein Synonym für wundersame Geschichten von Hexen, Zwergen und Prinzessinnen, die man Kindern aus bunt illustrierten Märchenbüchern vorliest.

Doch das war nicht immer das Wesen des Märchens. Das Märchen gilt als eine der ältesten Textgattungen der Welt, die in den unterschiedlichsten Kulturkreisen über viele Jahrhunderte ausschließlich mündlich überliefert wurde – man spricht vom s.g. „Volksmärchen“.

Wie der Name schon sagt, handelt es sich dabei um Erzählungen für alle Altersstufen, die keinesfalls nur für Kinder bestimmt waren. Ihre vorrangige Aufgabe war es von jeher, ihr Publikum zu unterhalten und erst in zweiter, nachgeordneter Linie, es moralisch zu belehren. Und als unterhaltsam empfanden die Menschen zu allen Zeiten und in allen Regionen der Welt in etwa das Gleiche: den Kampf zwischen Gut und Böse und den unweigerlichen Triumph des über sich selbst hinauswachsenden Helden über alle finsteren Mächte, der am Ende der Geschichte die schöne Prinzessin heimführen darf, garniert mit Zauberei und Erotik.

Erst im 17. Jahrhundert beginnen Märchensammler wie der Italiener Giambattista Basile und der Franzose Charles Perrault damit, Märchen aufzuschreiben und sie mit einer eigenen künstlerischen Handschrift zu versehen. Dabei richtet sich Basiles Sammlung Pentamerone (um 1635) an ein vorwiegend männliches, höfisches Publikum und versucht dieses mit geistreichen, aber auch gern derb-erotischen Szenen zu amüsieren. Auch Perrault schreibt Ende des        17. Jahrhunderts für ein adliges Publikum, aber gehören zu seinem Klientel in den Pariser Salons auch und vor allem Damen. Entsprechend bereinigt Perrault seine Märchen von aller schlüpfrigen Derbheit und erzählt sie dem Zeitgeschmack entsprechend als galante, teils kokette höfische Geschichten, denen er eine (mitunter ironische) Moral anfügt. Das Erotische aber ist aus Perraults Märchen noch nicht gänzlich verschwunden, sondern bildet an vielen Stellen gewissermaßen einen unterschwelligen Subtext.    

Jakob und Wilhelm Grimm schließlich sammeln und editieren ihre Kinder- und Hausmärchen, angeregt durch die Romantiker, nicht mehr unter dem Vorzeichen höfischer Galanterie, sondern unter der eines erstarkenden Bürgertums auf dem Weg zum Biedermeier. Akribisch säubern die strenggläubigen Calvinisten die Volksmärchen von allen erotischen, anzüglichen, vulgären (oder auch gesellschaftskritischen) Elementen, um sie einem rein pädagogisch-moralisierenden Zweck zuzuführen.

So sind aus dem uns heute geläufigen Grimm’schen Märchenschatz auf den ersten Blick alle erotischen und sexuellen Gehalte getilgt. Doch im Verborgenen schlummern sie auch in den Märchen der Brüder Grimm, tief vergraben hinter harmlosen Schwänken und biedermeierlichen Morallehren.

Ein viel zitiertes, weil auf dankbare Art symbolträchtiges und augenfälliges Beispiel ist das Märchen von Rotkäppchen, das gern für psychoanalytische und sexualwissenschaftliche Ausdeutungen herangezogen wird. Das Mädchen mit dem roten Käppchen (je nach Lesart ein Symbol für das noch intakte Hymen oder die erste Monatsblutung) droht durch den triebgesteuerten Verführer im Wolfspelz vom rechten Weg abzukommen. Es ist dies der Weg durch den dunklen Wald zum Haus der Großmutter, der den Initiations- und Lebensweg zu einem tugendhaften Erwachsenenleben versinnbildlichen soll.

Vom Tier im Manne, vor dem die Moral der Perrault’schen und Grimm’schen Märchen ihre jungen Leserinnen warnen, handeln noch eine ganze Reihe weiterer Märchen, darunter all jene, die das Motiv des Tierbräutigams enthalten. Bei den Grimms sind das beispielsweise Das singende klingende Löweneckerchen oder Von dem Sommer- und Wintergarten, doch am populärsten sind wohl die französischen (durch Gabrielle-Suzanne de Villeneuve und Jeanne-Marie Leprince de Beaumont aufgezeichneten) Varianten dieses Märchentyps unter dem Titel Die Schöne und das Biest.

Es ist jeweils die jüngste und schönste von drei Schwestern, die durch eine Verfehlung des Vaters einem schrecklichen Ungeheuer versprochen wird, das sich jedoch mit der Zeit als überraschend gütig und liebenswert erweist und die Liebe der jungen Frau erringt, durch die es seine wahre Gestalt (die eines Prinzen) zurückerlangen kann.

Vordergründig handeln die heute geläufigen Fassungen des Stoffes (darunter auch die bekannte Disney-Verfilmung) von der reinen, aufopferungsvollen Liebe der jungfräulichen Heldin, die über alle Äußerlichkeiten hinwegzusehen vermag.

Tatsächlich erzählt diese Gruppe von Märchen aber auch und vor allem von der unberechenbaren männlichen Triebnatur, von der sich das junge Mädchen zu gleichen Teilen angezogen und bedroht fühlt. Auch sie begibt sich wie Rotkäppchen auf eine Heldinnenreise in den fremden, finsteren Wald, muss ihre Familie und ihre Tochterrolle hinter sich lassen, um zur Frau zu reifen und das wilde Tier zu zähmen, dem sie versprochen ist.

Aber auch in anderen bekannten Märchen finden sich Rudimente und Relikte pikanterer Lesarten.

Zwar wird die schlafende Jungfrau in den Dornröschen-Fassungen von Perrault und den Grimms nicht mehr, wie noch bei Basile und in früheren Varianten der Geschichte (vgl. auch die Figur der Brunhilde in der Nibelungensage), von dem herbeieilenden Prinzen im Schlaf vergewaltigt und geschwängert, doch Hinweise auf die ursprüngliche, erotisch konnotierte Lesart des Stoffs bleiben dennoch selbst bei den Grimms erhalten. Nach wie vor erzählt das Märchen vom sexuellen Reifeprozess eines jungen Mädchens, den die besorgten Eltern hinauszuzögern versuchen, aber letztlich doch nicht verhindern können. Dornröschen wird sich an ihrem fünfzehnten Geburtstag an einer Spindel stechen, weissagt die böse Fee, woraufhin sie in einen hundertjährigen Schlaf fallen wird.

Zunächst ist das Spinnen seit der Antike ein Motiv für das weibliche Prinzip (vgl. bspw. das Spinnen des Schicksalsfadens durch die Nornen). Das Turmzimmer, das Dornröschen zum Zeitpunkt ihrer Geschlechtsreife betritt, ist ein geschützter Ort, an dem sie ihre erwachende Sexualität kennenlernen kann. Der Dorn der Spindel dringt ins Fleisch ein, bewegt sich vor und zurück und etwas Blut fließt. Das phallische Penetrationsmotiv erscheint hier unübersehbar. Doch diese (zu frühe?) weibliche sexuelle Bewusstwerdung ist gesellschaftlich unerwünscht. So versinkt die Prinzessin nach dieser ersten (auto-?)erotischen Erfahrung in ihrem hundertjährigen – je nach Fassung von einer undurchdringlichen Rosenhecke bewehrten – Schlaf, aus dem sie erst wenn die Zeit reif ist, durch den Kuss des Prinzen erweckt wird. Dieser Kuss kann als zweites, diesmal gesellschaftlich legitimiertes sexuelles Erwachen gedeutet werden, denn ihm folgt die Heirat, wodurch die weibliche Sexualität gebilligt und in ihre vorbestimmten Bahnen gelenkt wird.

 

Zum Schluss sei mit dem (bis zum antiken Danaë-Mythos zurückreichenden) Initiationsmärchen Rapunzel noch kurz ein besonders groteskes Beispiel für die radikal puritanische Märchen-Bearbeitung der Brüder Grimm erwähnt, bei dessen heute gebräuchlicher Fassung gänzlich unklar bleibt, wie und wann das in einen hermetisch abgeschlossenen Turm gesperrte Mädchen seine Jungfräulichkeit verloren und mit Zwillingen schwanger geworden ist…

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Kommentare: 1
  • #1

    Lisa D. (Montag, 29 August 2016 01:21)

    Hallo Anais, Danke für diesen interessanten Artikel bzw. die Webseite ! ICh lasse ein Grosses Lob an Dich sowie Erotische-Grüsse da :)...Lisa :-)